Text: Babette Karner
Der Text erschien in Ausgabe 1 (11/24).
Lesezeit 4 Min.
Ein Sommerhit im Winterschlaf
Eigentlich wäre für das winterliche Freischütz-Dorf am Bodensee nun die perfekte Zeit gekommen: Denn der künstliche Schnee auf den Hügeln würde mit etwas echtem Weiß sicher noch eindrucksvoller wirken. Doch die Bregenzer Festspiele sind ein Sommerfestival und die spektakuläre Freischütz-Kulisse, die selbst an einem warmen Augustabend das Publikum frösteln lässt, liegt im tiefen Winterschlaf.
Am Ende der Festspiele wurde das Wasser aus dem rund 500.000 Liter fassenden Becken abgelassen: Bis zum nächsten Frühjahr ist nun der Blick frei auf all die Gewerke und Bauteile, die während der Festspielzeit unter Wasser verborgen sind. Lautsprecher, Scheinwerfer, Requisiten, sensible Elektronik, hydraulische Antriebe und andere kälteempfindliche Installationen wurden Ende August ebenfalls abgebaut und eingelagert. Alles andere bleibt draußen: Über den Winter können Dorf und Hügel nun neben der künstlichen Patina, die das Kaschur-Team der Festspiele im Frühjahr verpasst hat, auch ein wenig echte Patina ansetzen.
Mit diesem Freischütz haben die Bregenzer Festspiele wahrlich ins Schwarze getroffen. Einen derart erfrischenden Zugang zur Oper hat man noch selten erlebt.
ORF Wien
Knapp 200.000 Menschen strömten in diesem Sommer zum Freischütz an den Bregenzer Bodensee. Alle 28 Vorstellungen des Spiels auf dem See waren restlos ausverkauft und die Besucher:innen hingerissen von Philipp Stölzls Interpretation der Oper. Ganz nah am Zuschauerraum liegt die schaurig-poetische Welt, die der deutsche Regisseur und Bühnenbildner für Carl Maria von Webers romantische Schauergeschichte rund um die Liebe der Erbförstertochter Agathe zum jungen Amtsschreiber Max geschaffen hat. Letzterer kämpft inmitten einer kahlen Winterlandschaft, zwischen windschiefen, halb im Wasser versunkenen Häusern, Baumgerippen und Pferdeskeletten unter den Augen der argwöhnischen Dorfgesellschaft um die Hand seiner Geliebten. Denn der Hochzeit der beiden steht ein alter Brauch im Weg: Max muss einen erfolgreichen Probeschuss abgeben, um Agathe heiraten und die Erbförsterei übernehmen zu können. Das Problem: Max ist kein guter Schütze. Die Lösung: ein Pakt mit Samiel, dem Teufel.
In dieser Inszenierung gelingt ein Freischütz auf überraschend anderer Art; teuflische Schauerstimmung wird übersetzt in eine mit allen technisch machbaren Effekten gespickte moderne Opernshow.
Aargauer Zeitung
„Ich wollte diese Oper hier schon machen, als ich das erste Mal nach Bregenz gekommen bin“, verriet der renommierte Film- und Opernregisseur Philipp Stölzl, der 2019/21 bereits Verdis Rigoletto auf der Seebühne inszeniert hatte, beim Seebühnen-Richtfest im Frühjahr 2024. Der Form, die Stölzl für den Freischütz gewählt hat, lag eine ganz bewusste Entscheidung zugrunde: „Wir wollten die romantische Schauergeschichte, auf der diese Oper basiert, hier am Bodensee durch und durch umarmen.“ Und tatsächlich: Eine feuerspeiende Schlange gewährt dem Teufel Samiel einen Ritt nach oben, geisterhafte, unheimliche Wesen winden sich im schwarzen Wasser der Lagune, gespenstisch bleich tanzt Agathe auf ihrem Bett.
Den Sprechszenen widmete Stölzl in seiner Inszenierung besondere Aufmerksamkeit, denn: „Die Oper besteht schließlich fast zur Hälfte aus Sprechtheater.“ Zusammen mit dem Autor Jan Dvořák hat er die Sprechszenen neu gefasst und ergänzt. Samiel hat Stölzl zum Erzähler, Conférencier und Strippenzieher aufgewertet. Zur Faszination des Publikums wechseln sich im Bregenzer Freischütz die eingängigen Melodien und Arien Carl Maria von Webers mit zahlreichen Dialogen ab – und mit den beißenden Kommentaren des Teufels.
Der Bregenzer Freischütz entfernt sich eklatant vom reinen Opern-Event – und baut gerade dadurch Brücken. […] Ein gelungenes Experiment, das zudem auch noch sehr breitenwirksam daherkommt – ein idealer Einstieg also für Opern-Neulinge.
Orpheus Opernmagazin
Samiel, abwechselnd gespielt von den beiden Schauspielern Moritz von Treuenfels und Niklas Wetzel, ist im Freischütz immer und überall präsent, klettert auf Bäume, reitet auf dem Skelettpferd und erscheint auf der Spitze des Kirchturms. Dabei treibt er die Geschichte voran, dirigiert die Figuren, diktiert deren Handlungen und kommentiert sie scharfzüngig. Der Kriegsveteran Kaspar wird von Samiel dazu angestiftet, den jungen Schreiber Max zu überreden, nachts in der gespenstischen Wolfsschlucht Freikugeln zu gießen. So soll sich Max die Hochzeit mit seiner Geliebten Agathe sichern – dafür bekommt der Teufel seine Seele.
Die Wolfsschluchtszene ist der optische und dramatische Höhepunkt des Bregenzer Freischütz: Webers düstere Klänge und die bedrohliche Orchestrierung, gepaart mit eindrucksvollen Lichteffekten, dichten Nebelschwaden, heulenden Wölfen und krachendem Donner verwandeln die Bühne in einen surrealen, albtraumhaften Ort. Wenn Kaspar inmitten eines Flammenmeeres Freikugeln gießt, herrscht Gänsehaut auf den Rängen.
Voller Witz und beißender Ironie, Mysterienspiel und Wasserschlachten lässt Philipp Stölzl seine Neu-Inszenierung des Opernklassikers von Carl Maria von Weber auf der Bregenzer Bodensee-Bühne enden. Spektakulär und ungewöhnlich.
Westdeutsche Zeitung
Für die Sänger:innen des Bregenzer Freischütz waren die besonderen Bedingungen des Bühnenbilds eine große Herausforderung: Die Dimensionen der Seebühne sind riesig und man braucht eine gute Kondition, um hier zu spielen und zu singen. Die Inszenierung von Philipp Stölzl geht aber noch ein bisschen weiter: Hier bewegen sich alle Darsteller:innen während der Aufführung im knietiefen Wasser. Spezielle Schuhe und Neoprenanzüge unter den Kostümen halten warm und schützen vor Ausrutschern im Becken. Doch damit nicht genug: Ännchen singt ihre Arie, während sie auf einer kleinen Plattform inmitten des Wasserballetts der Stuntfrauen balanciert. Kaspar geht sogar ganz unter und wird von einem Stunttaucher unter Wasser mit Sauerstoff versorgt. Einmal und nie wieder? Weit gefehlt: Die meisten Sänger:innen werden auch im Freischütz 2025 zu sehen sein – denn ein Sommer am Bodensee ist einzigartig.